Kultur

Die fiktiven Zeitreisen der Alexandra Müller-Jontschewa

Die Malerin Alexandra Müller-Jontschewa vor ihrer „Justitia“ Foto: Gerd Hoyer

Erschienen am 17.05.2023

Von Dr. Klaus Freyer 

Gera (NG). Eine geflügelte Rittermarionette überfliegt in einem goldenen Einrad ein Felsplateau, auf dem Pegasos gerade die Zügel angelegt werden. Die „Reinkarnation" des Ikarus? Im „Urteil des Paris" präsentiert Aphrodite die schöne Helena als Goldkopie ihrer selbst. Eine neue Version der ersten Miss-Wahl in der Geschichte? Mythen, Menschen und Marionetten sind wohl die wichtigsten Motive der Malerin Alexandra Müller-Jontschewa. Das spiegelt mit faszinierendem Schauwert und fast magischer Anziehungskraft die große Retrospektive im Panoramamuseum Bad Frankenhausen wider. 

Anlässlich des 75. Geburtstags geben 70 Gemälde und 30 Handzeichnungen Einblick in alle Schaffensperioden der Künstlerin. Längst international anerkannt, nimmt sie eine dominierende Rolle in der weltweit ausstellenden Künstlergruppe „Libellule" ein, die sich einer Renaissance contemporaine verpflichtet fühlt. 

Neben Überlieferungen aus Mythos und Religion begegnet die Malerin auf ihren künstlerischen Streifzügen durch die Geschichte auch historischen Persönlichkeiten. Es sind die Legenden, das Leben mythischer und historischer Figuren, die bereits die Künstler der Renaissance für einen neuen Geist von Humanismus und Naturalismus in der Malerei nutzten. Dem nachzuspüren und zugleich sowohl die eigene Sicht als auch den individuellen Stil einzubringen, dies gelingt der Künstlerin ebenso meisterhaft. 

Souverän und kenntnisreich verwendet Alexandra Müller-Jontschewa für ihre Bildkomposition Zitate aus der Kunstgeschichte, die so manches Werk zu einer Hommage an die alten Meister werden lassen. 

Ihr originäres Marionettensujet steht als surrealistisches Gleichnis für ein differenziertes Bild von der Gesellschaft, das auch das Scheitern des Menschen einschließt, wie in der unfreiwilligen „Siesta", einer schicksalhaften Metapher für Entmündigung oder gar Nutzlosigkeit. Das Spiel ihrer Gliederpuppen lässt den Betrachter ahnen, dass das Rad der Geschichte die Menschen das eigene Schicksal nicht selbst bestimmen lässt. Es ist wohl das Ringen zwischen der vermuteten Prädestination menschlichen Lebens und dem Bekenntnis zum freien Willen, das die Künstlerin umtreibt. 

Dabei schreckt sie auch nicht vor den Schattenseiten einer Moral zurück, die ihre soziale Balance längst verloren oder vielleicht nie gehabt hat. In „Justitia" scheint die Göttin noch unschuldig nackt ihrer Profession nachzugehen, aber ihre Waage der Gerechtigkeit ist dabei, die Balance zu verlieren. Längst ziehen andere die Fäden... Alexandra Müller-Jontschewa maßt sich nicht an, die moralische Instanz zu sein. Aber: Sie hofft, dass es eine gibt. Und sie wird nicht müde, die Gefährdungen und Versuchungen der Menschheit auf die Leinwand zu bringen. Alle Saiten des Seins erklingen, manchmal die Seelenqua­len etwas lauter als unsere Sehnsüchte und Hoffnungen auf Liebe, Harmonie und Glück. 

Bei aller Dramatik: Die Ausstellung vergisst nicht den augenzwinkernden, humorvollen Blick der Malerin auf uns Menschen und die unser Schicksal begleitenden Götter. Oder vielmehr, was von ihnen noch in unserem Gedächtnis geblieben ist. So wird das Urteil des Paris zu einer Hommage auf die Sinnlichkeit der Frau und die Schlitzohrigkeit der Götter – oder der Männer, was in diesem Fall ja fast dasselbe ist. Auch ein Kunstfreund bekommt nicht immer die Gelegenheit, drei Göttinnen auf einem Bild nackt zu sehen. Was sogar Eros seinen Bogen vergessen lässt... 

Ein in Bild- und Textqualität herausragender Katalog würdigt Alexandra Müller-Jontschewa als führende Repräsentantin eines altmeisterlichen Manierismus, der kunsthistorisch von bleibender Bedeutung sei.

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