Gesellschaft

Keine Prüfung in Gegenwartskunde

Der Langenberger Schulabschluss-Jahrgang 1953 trifft sich vor dem Schuleingangsbereich zum Klassentreffen. Foto: Jens Lohse

Erschienen am 23.08.2023| Jahrgang: NG 17/23

Von Jens Lohse Langenberg (NG). Viel Lebenserfahrung versammelte sich jüngst vor der Langenberger Schule. Der Schulabschlussjahrgang 1953 hatte nach 70 Jahren zum Klassentreffen eingeladen und erstaunlich viele Ex-Schüler waren gekommen. Harald Otto hatte sich als Organisator verdient gemacht. Der 85-Jährige war 2021 nach 31 Jahren an der Südlichen Weinstraße wieder nach Gera zurückgekehrt. 1887 war die Langenberger Schule errichtet wurden und erhielt in den Folgejahren viele Anbauten, weil die Industrialisierung auch am nördlichen Geraer Stadtrand Einzug hielt, die Einwohnerzahlen wuchsen und die Schule somit immer wieder aus allen Nähten platzte. Nach Ende des 2. Weltkriegs kam dann die große Welle an Flüchtlingen hinzu, die auch vor Langenberg nicht halt machten. In Hochzeiten waren bis zu 700 Kinder und Jugendliche in Langenberg schulpflichtig. „Eigentlich sollte die Schule für uns schon am 1. September 1945 beginnen. Doch weil das Gebäude vielen Ostvertriebenen als Unterkunft diente, dauerte es bis zum 11. November, bis diese anderweitig untergebracht waren und die Schule wieder ihrer eigentlichen Bestimmung übergeben werden konnte", erinnerte sich Harald Otto in seiner kurzen Ansprache. Viele Mitschüler hatten diesen Fakt verdrängt. Weil nicht alle Familien angesichts der herrschenden Armut nach den Kriegswirren in der Lage waren, ihren Kindern eine Zuckertüte zu schenken, sprang die Buchbinderei Zippel ein, um den Zuckertütenbaum zu befüllen, an dem auch noch Reste aus der Zeit davor hingen. Eigentlich wollte Harald Otto seine einstigen Mitschüler auch durch die Langenberger Schule führen. Erst gestaltete sich die Kontaktaufnahme als schwierig, dann sollten an die „Elstertal"-Infraprojekt für eine Stunde 55 Euro entrichtet werden, weshalb die bis aus Wolfenbüttel angereisten Ex-Schüler empört auf einen Rundgang verzichteten. 

Der Stimmung beim Klassentreffen tat dies keinen Abbruch. Man erinnerte sich an Klassenlehrer Richard Hempel und an die Klassenstärke von 52 Jungen am ersten Schultag. Die Mädchen wurden zunächst getrennt unterrichtet. Die 1945 offiziell abgeschaffte Prügelstrafe hatten manche Lehrer noch nicht dauerhaft verinnerlicht. Die extrem trockenen Jahre 1946 und 1947, der kalte Winter dazwischen, der Hunger nach dem Krieg - all das kam zur Sprache. „Wir waren der einzige Jahrgang in der DDR, der keine Prüfung in Gegenwartskunde ablegen musste. Die hätte in unmittelbarer Nähe des Volksaufstands am 17. Juni 1953 stattgefunden. Als wir in die Schule kamen, erwartete uns Klassenlehrer Hempel schon an der Haustür und schickte uns mit den Worten nach Hause: ´Wer weiß, ob morgen noch stimmt, was ihr heute sagt.'", verriet der 84-jährige Hans Bürglen, der mittlerweile in Erfurt zu Hause ist. Auch die schwierigen hygienischen Verhältnisse mit den spartanischen Toiletten mit einer gemeinsamen Ablaufrinne und nur einem Waschbecken auf dem Flur waren Gesprächsthema. „Die enorme Schülerzahl führte dazu, dass ich nach dem ersten Jahr weder lesen noch schreiben konnte", erzählte Dr. Hans-Hermann Stumpf (84). Für Günter Nägler war dies allerding kein Hindernis, später in Leipzig seinen Weg bis zum Mathematik-Professor Dr. rer. nat. habil. zu gehen. 

Die meisten Fibeln für die Erstklässler hatten ältere Schüler per Hand angefertigt. Diese stammten noch aus der Vor- und Kriegszeit, wobei die Hakenkreuze überklebt waren. Viele Neulehrer unterrichteten. „Sie waren die Quereinsteiger von damals", lachte Harald Otto. 

Was in seinem kleinen Schultäschchen alles war, daran erinnerte sich Hartwig Hopp (83). „Die Schiefertafel und der Griffel. Hinzu kam ein klitzekleines Vokabelheft und ein Bleistift. All das habe ich gehütet wie meinen Augapfel", berichtete er, der schon als Fünfjähriger eingeschult wurde. Aus Wacholderbaum nahm er mit seiner achtjährigen Schwester Hand in Hand bei Wind und Wetter, Regen und Sturm und auch im Schneetreiben bei Eiseskälte den oft beschwerlichen weiten Schulweg auf sich. 

Nach einer knappen Stunde im äußeren Umfeld der Langenberger Schule ging es weiter zum „Gasthof Langenberg", vormals „Zum Weißen Roß", wo weitere ehemalige Schüler des Abschlussjahrgangs 1953 zur Gruppe stießen und noch bis zum Abend gemütlich in Erinnerungen schwelgten.

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