Kultur

Osterspaziergang 2023 - eine Zeitreise durch Debschwitz

Die vielen Details, liebevoll und sachkundig erzählt, zeigen den Wandel der letzten 60 Jahre

Erschienen am 13.04.2023

von Manfred O. Taubert

2021 unternahm ich einen sehr langen Osterspaziergang durch meine Heimatstadt Gera. Der Weg führte mich damals von einer Bushaltestelle am Ostfriedhof durch das Stadtgebiet und über den Hainbergweg im Stadtwald bis nach Untermhaus. Unter den zahlreichen Zuschriften nach der Veröffentlichung des Spazierganges war auch eine Zuschrift, die einen derartigen Spaziergang durch Debschwitz anregte. Aufgrund der Tatsache, dass im Februar 2023 der erste Teil der Wiesestraße still und leise für den Verkehr freigegeben wurde, kam mir der Gedanke, dass mich der diesjährige, ein paar Tage vor Ostern durchgeführte Osterspaziergang, durch den Stadtteil Debschwitz führen sollte.
Dieser Stadtteil ist ein fester Bestandteil meines Lebens in Gera. Geboren in einer kleinen Dachgeschosswohnung in der Oststraße 12, einem Haus welches vor ein paar Jahren abgerissen wurde, verbrachte ich in Debschwitz meine Kindheit und die Schulzeit bis Anfang der 7. Klasse. Später wohnten wir in der Kopernikusstraße 22. Durch einen beruflichen Wechsel meiner Eltern zogen wir nach Neustadt/Orla und meine Lehrzeit verbrachte ich in Zeulenroda. So kehrte ich erst 1969 wieder in meine Heimatstadt zurück. Aber das ist eine andere Geschichte. An die Wohnung in der Oststraße habe ich keine Erinnerung. Die Nummer 22 der Kopernikusstraße befindet sich am Ende der Straße. Im Hofgrundstück war damals die Glaserei Radeck. Gegenüber war das Elektromotorenwerk (heute Europaschule) und in der damals zwischen Heinrich-Schütz-Straße und Hainbergstraße nur spärlich bebauten Beethovenstraße befand sich u.a. der Lagerplatz der Firma Renner (Straßenbaubetrieb). Auf dem Lagerplatz standen auch die Autos des Schnellkommandos der Polizei. Das Polizeirevier befand sich an der Ecke Wiesestraße / Waldstraße. Der Lagerplatz war ein sehr beliebter „Spielplatz" und auch die Polizeiautos wurden eingehend inspiziert.

Färberei Wandel, Südstraße

Meine Einschulung erfolgte in die 6. Polytechnische Oberschule Gera-Debschwitz (altes Schulgebäude) und mein Schulweg verlief über die Kopernikusstraße, Karl-Marx-Allee, Wiesestraße und Debschwitzer Straße in die Schule.
Natürlich wurde der ca. ein Kilometer lange Weg gelaufen. Wenn ich heute durch diese Straßen gehe, denke ich oft an die vielen Geschäfte, die an diesem Weg lagen und die heute schon lange verschwunden bzw. anders belegt sind. Das fing, stadtauswärts gesehen, in der Wiesestraße an. Auf der linken Straßenseite war an der Ecke ein Fleischer, dann kam ein Gemüsegeschäft, eine Arztpraxis, ein Milchladen, die Fa. Masuch (dort gab es alles Mögliche für den Haushalt), eine kleine Poststelle, eine Firma die Rollladen herstellte, an der Ecke H.-Heine-Straße einen HO-Lebensmittelladen, danach eine chemische Reinigung, einen Porzellanladen, ein Geschäft für Modellbahnen, dann der „Foto-Wagner" (dort kaufte ich die ersten mehr oder weniger gut kopierten alten Ansichtskarten von Gera), einen Lampenladen, einen Bäcker, danach kam an der Ecke Oststraße ein Verkaufsladen der Firma Sachse (Polsterwaren?), danach waren noch ein paar Geschäfte, deren Warensortiment ich nicht mehr im Kopf habe. An der Ecke Nordstraße war die Gaststätte „Feldschlößchen", danach kam noch ein Papiergeschäft und dann schon an der Ecke Debschwitzer Straße die Gaststätte Sittig. Heute steht dort ein kleiner Imbiss und das „Debschwitzer Fischmärktchen", sehr zu empfehlen! Gegenüber war eine Konsum-Verkaufsstelle. Auf der rechten Straßenseite der Wiesestraße stadtauswärts (ab K.-Marx-Allee) kam zuerst eine Apotheke, danach die „Drogerie Saalfeld" (später Lukosek), der Zahnarzt Hallaschka. An der Ecke Rudolf-Scheffel-Straße befand sich eine Kartonagenfabrik, die sich in der R.-Scheffel-Straße bis zu dem kleinen Durchgang zur K.-Marx-Allee hinzog.

Nach 1990 wurde sie abgerissen und heute stehen dort neu errichtete Wohnhäuser mit der Bäckerei Oeser an der Straßenecke. Gegenüber war der Fleischerladen Schödel und dann ging es weiter mit einem Juwelier- und Schmuckgeschäft. Etwas weiter war noch eine kleine Sparkassenfiliale, bevor rechts ein holzverarbeitender Betrieb, er stellte wohl damals auch Holzhäuser her, eine große Fläche einnahm. In der nachfolgenden Flurstraße gab es einen kleinen Betrieb, dort wurden später Folien hergestellt. Zu Beginn meiner Schulzeit (1958) wurde die Bebauung der Haeckelstraße und heutigen Prof.-Simmel-Straße gerade in Angriff genommen. Nach dem Schulunterricht spielten wir damals noch in der ehemals in der Beräumung befindlichen Gartenanlage. Der erste Teil der Debschwitzer Straße war am Ende noch geprägt von einem kleinen Bauerngut. An etwa dieser Stelle befand sich später die „Ernst-Thälmann-Oberschule" und heute stehen an dieser Stelle mehrere Reihenhäuser. Gegenüber dem Bauerngut befand sich das Friseurgeschäft Hänel, nur für Herren (Nr.12). Nach dem Haus Nr.12 stand noch ein kleines Haus, wir haben es immer „das Hexenhaus" genannt, dort wohnte eine einsame alte Frau. Dem schloss sich das öffentliche „Wannenbad" an. Das Bad war damals gut frequentiert, denn die wenigsten Wohnungen verfügten über ein eigenes Bad. Der Preis für eine Wannenfüllung war gering und die Badezeit war begrenzt. Ich kann mich noch gut erinnern, dass dort ein großer Raum durch Abteile getrennt war, in denen die Badewannen standen. Geräuschmäßig badete man immer in der Nachbarkabine mit. Im Schulgelände befanden sich zwei Schulgebäude, ein kleines Gebäude mit Werk-räumen und die Turnhalle. Die Werkräume, das ältere Schulgebäude und das Wannenbad sind schon lange Geschichte, dort steht heute die Grundschule. Ein sehr schöner Schulkomplex ist an dieser Stelle entstanden.
In der großen Pause mussten wir immer im Schulhof im Kreis gehen, heute undenkbar. Im zweiten Teil der Debschwitzer Straße standen noch zwei Bauerngüter (eines davon steht noch, auf dem Gelände des anderen steht heute die neue Turnhalle) und der Schulhort. Nach dem Schulhort war das kleine Milchgeschäft Elle und im weiteren Verlauf in Richtung Südstraße befand sich die sehr bekannte Gaststätte „Trempert's Lokal" mit angeschlossener Kegelbahn.

Trempert‘s Lokal

Nach langem Verfall wurde sie vor ein paar Jahren abgerissen. Gegenüber dieser Lokalität war an der Ecke Georg-Büchner-Straße ein Bäcker. Dort haben wir nachmittags oft für 20 Pfennig sehr schmackhaften Kartoffelkuchen gekauft. Der Bereich der Südstraße war damals noch ländlich geprägt. Ich erinnere mich an mehrere Bauerngüter und eine Gärtnerei. Prägnant war dort die „Färberei Wandel". Über die Elster führte ein Holzsteg zum Stadion. Unterhalb des Holzsteges sind wir im Sommer oft durch die Elster gewatet. Weiter elsterabwärts war das aufgrund der „Einspeisungen" des Schlachtbetriebes nicht möglich. Das sah manchmal wirklich schlimm aus. Die Vogtlandstraße war damals ein mehr oder weniger befestigter Weg und wir gingen im Sommer oft dort entlang zum Elsterwehr. Ich kann mich noch daran erinnern, dass es mutige Jungs gab, die von einer bestimmten Stelle unmittelbar oberhalb des Wehres in die Elster sprangen. Wenn ich heute diese Wege durch Debschwitz gehe, so sind zwar die meisten Häuser saniert und farbig gestrichen, doch leider sind viele Geschäfte verschwunden.

In von mir gesammelten Zeitungsnotizen (seit 2009 fast täglich) finden sich sehr interessante Notizen zum Bauvorhaben Wiesestraße. Sie zeigen, dass diese Baustelle von Anfang an als „skandalös" zu bezeichnen ist. Das fängt 2011 an, setzte sich 2013 mit Baumfällungen fort, u.a. auch auf dem Privatgrundstück eines Zahnarztes (ein sich anschließender Rechtsstreit endete 2015 mit der Einstellung des Strafverfahrens gegen den damaligen GVB-Chef Thalmann wegen „Geringfügigkeit"). Der Baubeginn verzögerte sich Jahr für Jahr, selbst im Jahr 2019 wurde der Termin dreimal verschoben, bis dann der 2.8.2019 als der offizielle Baubeginn anberaumt wurde und am 8.8.2019 dort zum Baubeginn noch ein „großer Bahnhof" stattfand. Gleichzeitig verkündete man, dass die Baustelle (1. Bauabschnitt bis Arminiusstraße) 2021 abgeschlossen ist. Vollmundig versprach man Bauzeiten von Montag bis Samstag von Trempert's Lokal7.00 bis 20.00 Uhr. Bereits im Dezember 2019 räumte man einen Bauverzug von einer Woche ein. Im ersten Halbjahr 2020 war man bei drei Monaten Bauverzug und Ende 2020 sprach man schon von einem Jahr Bauverzug, die Bauabschnitte zwei und drei legte man „auf Eis". Alles was sich danach abspielte, dürfte den meisten Einwohnern noch bekannt sein. Corona ist nicht an allem schuld! Soweit zur Wiesestraße.

Nach dem Schulunterricht trafen wir uns in den Straßen und spielten oft in den Häusern Versteck. Das war damals allgemein üblich und möglich, denn die Haustüren der Häuser waren kaum verschlossen. Oft trafen wir uns auch auf der Spielwiese. Im Winter fuhren wir mit dem Schlitten die kleinen Abhänge zur Elster hinunter. Im kleinen Rundkonsum an der Spielwiese gab es immer schmackhafte Bockwürste und Limonade. Auf dem damaligen „Schützenplatz" an der Radrennbahn war oft der „Rummel" oder der Zirkus aufgebaut. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass es zu verschiedenen Anlässen eine „Holz-Achterbahn" und einmal auch eine „Eisrevue" gegeben hat. Wenn der Zirkus kam, halfen wir manchmal beim Aufbau mit (im Zelt die Teile für die Bank-reihen hintragen), dafür konnte man bei etwas Glück kostenlos in die Nachmittagsvorstellung gehen. Mit dem Abriss des alten Schützenhauses und des Aufbaus des Ausstellungszentrums war das dann natürlich vorbei. Oberhalb der Radrennbahn war eine Kirschplantage, diese war zur Kirschenzeit sehr angesagt. Wir pirschten uns durch den Wald, hinter dem Felsenkeller, zu dieser Anlage und irgendwo war dann auch immer eine Lücke im Zaun.

Der Weg am Felsenkeller in den Wald hinein war im Winter eine beliebte Rodelbahn. Oftmals fuhren wir auch in den „sieben Bergen" (das Waldgebiet oberhalb der Vollersdorfer Straße in Richtung Gladitschturm) mit den Schlitten. Dort waren die „Abfahrten" etwas steiler. Nach 1990 wurde das Ausstellungszentrum zurückgebaut und heute stehen dort Wohnhäuser.
Im Jahr 1962 begann man im Martinsgrund mit einheimischen Tieren ein Tiergehege zu errichten. Wir sammelten im Herbst Kastanien und Eicheln und lieferten sie dort ab. Das wurde gern gesehen. Der Tierpark ist immer einen Besuch wert und ich verstehe heute nicht die Diskussionen, wenn die Eintrittspreise nach ein paar Jahren etwas angehoben werden. Aufgrund seiner Lage und Ausstattung ist er in Thüringen sicher einmalig.
In unmittelbarer Nähe des Eingangs zum Tierpark ist der Dahliengarten ein gern besuchter Ruhepunkt, besonders während der Zeit der Dahlienblüte.

Gaststätte Felsenkeller

Gaststätte Felsenkeller

 

An der Ecke Wiesestraße/Keplerstraße war eine Ziegelei, ein Gebäude davon steht heute noch, die dazugehörige Lehmgrube war auf der anderen Straßenseite weiter oben in Richtung Zeiss (heute TGZ u.a.). Manchmal spielten wir in dieser Lehmgrube und fuhren dann mit einer Kipplore in Richtung Ziegelei. Es gab da eine Unterquerung der Keplerstraße. Erwischen lassen durfte man sich nicht, dass gab dann Ärger.

Ziegen im Tierpark

Ziegen im Tierpark

Im „Golde-Bau", damals ein Fahrzeugzubehörwerk, hatten wir UTP, „Unterrichtstag in der Produktion". Überhaupt gab es in Debschwitz große und wichtige Industriebetriebe, einige sollen hier kurz genannt werden: die WEMA in der Tschaikowskistraße, die Textima am Faulenzerweg, die Wurstfabrik in der Arminiusstraße, die Filtertuch-fabrik in der Wiesestraße, die Geraer Strickgarnfabriken am Ende der H.-Heine-Straße, die spätere TGA und natürlich Zeiss in der Keplerstraße. Daneben gab es auch kleinere Handwerksbetriebe, z.B. Glasereien in der Oststraße und Kopernikusstraße, den Schrotthandel Kumst in der K.-Marx-Allee, eine Kistenfabrik in der Straße des Friedens und den Straßenbaubetrieb Renner in der Beethovenstraße. Das sind nur einige Beispiele. Die großen Fabriken sind mittlerweile fast alle abgerissen und heute stehen dort (z.B. Tschaikowskistraße, Arminiusstraße, Schützenplatz) mehr oder weniger schöne Eigenheime. Eine sehr entspannende Ruheinsel ist der 1883 eröffnete Südfriedhof. Als Kind sicher nicht so prickelnd, aber später, wenn man sich etwas mit Stadtgeschichte beschäftigt, umso interessanter. Die Namen der großen Fabrikgründer oder solche Namen wie z.B. Bruna Wendel-Plarre, Walther Stötzner, Heinrich Laber und Rudolf Hundt zeigen, dass in Gera einstmals Menschen beheimatet waren, deren Wirken und Bekanntheitsgrad weit über die Stadt hinausreichten. Der „Fuchsturm" war früher nicht begehbar, aber an den Wochenenden war manchmal der Gladitschturm auf der Metzhöhe geöffnet. Von seiner oberen Plattform hatte man eine gute Übersicht. Wenn ich mich richtig erinnere, kostete das 20 Pfennig Eintritt. Es ist sehr schade, dass der Gladitschturm sicher nie wieder für die Öffentlichkeit zugänglich wird.

Fa. Golde, 1920

Fa. Golde, 1920

Beim Fuchsturm kann man noch hoffen, dass er wieder geöffnet wird. Es ist unverständlich, dass solche Aussichtspunkte mit (für mich) teilweise sehr schwer verständlichen Gründen geschlossen sind. In den Sommermonaten war der Wald ein beliebter Spielplatz für uns. Wir begaben uns dann auf „Untermhäuser Gebiet" und besichtigten die damals noch stehenden Ruinen vom Schloss Osterstein. Das war immer ein großes Abenteuer.

Fuchsturm

Debschwitz ist auch heute ein schönes Wohngebiet, besonders Heinrichsgrün mit seiner unmittelbaren Nähe zum Wald ist sicher eine begehrte Wohngegend. Über Waldwege gelangt man nach Untermhaus, am bequemsten natürlich über den „Faulenzerweg". Wenn man durch Debschwitz geht, hat man den Eindruck, dass dieser Stadtteil sauberer ist als z.B. das Stadtzentrum. Die Schmierereien an der neu errichteten Hochwasserschutzmauer entlang der Elster sind natürlich weniger schön und Verständnis kann man dafür nicht aufbringen. Es lohnt sich aber durchaus, einmal in Ruhe durch diesen Stadtteil zu bummeln, um die vielen kleinen und großen Schönheiten (z.B. Haus Schulenburg) zu entdecken.
Kurz noch ein paar Bemerkungen zu den Straßennamen. Diese wurden bekanntlich mehrfach geändert. Hier ein paar wesentliche Namen. Wiesestraße: von 1958 – 91 Leninstraße; Waldstraße: ab 1959 Straße des Friedens; Prof.-Simmel-Straße: u.a. bis 1966 Spörlstraße, danach bis 1991 Eugen-Selbmann-Straße.
Weiterführende Ausführungen zu den Straßennamen entnehmen Sie bitte dem Buch: Die Straßennamen der Stadt Gera von A bis Z, Ausgabe 2020.

 

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